Wenn Ideale zur Norm werden

Wenn Ideale zur Norm werden

1981 wurde ich umgeschult. Wir waren die „schwierige Klasse“ einer durchschnittlichen Grundschule. Nachträglich zusammengestellt aus zurückgestuften, zugezogenen und von den jeweiligen Klassenlehrerinnen aussortierten Zweitklässlern. Migrationshintergründe, Essstörungen, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie, Transidentität, Hochbegabung, Depressionen und Sozialphobie waren als Begriffe noch nicht im allgemeinen Bewusstsein verankert. Darum waren wir – obwohl wir sämtliche Symptome zum Besten gaben – nur Sonja, Kemal, 3x Claudia, Eduard, Azur, Kristina, Adiyemi, 1falt … mehr oder weniger angepasst mit mehr oder weniger vorzeigbaren Noten.

Rückblickend denke ich schon, dass es für die Hand voll Vertretungslehrerinnen (die Klassenlehrerin wurde rechtzeitig schwanger) nicht immer leicht war, uns etwas beizubringen. Geklappt hat es trotzdem. Das Durchschnittsalter im Lehrerzimmer lag deutlich über 50. Man hatte schon so viele randalierende Siebenjährige er- und überlebt, dass eine konzeptbefreite Pädagogik der Gelassenheit den Schulalltag bestimmte. Unsere Eltern kamen aus Russland, Polen, Nigeria, Deutschland und der Türkei, waren jüdisch, muslimisch, katholisch, protestantisch, evangelikal und atheistisch, hatten viel, genug oder wenig Geld, viel, genug oder wenig Arbeit, viel, genug oder wenig Interesse an ihren Kindern. Nach der Schule spielten wir auf der Straße, auf Baustellen, Spiel- und Bolzplätzen.

Wenn ich überlege, was ich in dieser Zeit (neben Lesen, Schreiben, Rechnen, Völkerball) gelernt habe, ist es, dass Menschen so unterschiedlich sind, dass es viel mehr Sinn macht, sich zu ergänzen und gegenseitig zu helfen als miteinander zu wetteifern.

Wahrscheinlich lassen sich meine Erfahrungen nicht verallgemeinern. Schließlich war unsere Außenseiter-Klasse eingebettet in eine gut situierte Spießeridylle mit gepflegten Vorgärten und gestärkten Gardinen. Wir lebten nicht in einem sozialen Brennpunkt und wenn doch, verbrachten wir die meiste Zeit in Familien, bei denen es offene Türen und Mütter  mit Schürzen gab, die gerne auch mal andere Kinder bekochten.

Vor allem aber lassen sich meine Erfahrungen nicht auf die heutige Zeit übertragen. Denn neben all den oben aufgeführten Festschreibungen individueller Leistungs(-un)fähigkeit fehlte vor allem der heute allgegenwärtige Leistungsdruck. Ein Leistungsdruck, der nicht nur auf den Kindern, sondern auch auf Eltern und Lehrern lastet. Der sich in Ausbildung, Arbeits- und Beziehungsalltag fortsetzt.

Wenn nur das Beste gut genug ist, wird alles erklärungsbedürftig, was nicht perfekt ist. Dann braucht es für jede Leistung, die keine Bestleistung ist, eine Begründung. Dann ist alles krank, was nicht dem Ideal entspricht.

Wenn also Ideale zur allgemeinverbindlichen Norm werden, erzeugt jede Unvollkommenheit auch individuellen Leidensdruck. Dann wird alles zum persönlichen Versagen, was nicht perfekt ist. Darum braucht es den Fachbegriffe für vermeintliche Fehlfunktionen, um zu erklären, dass Perfektion im Einzelfall nicht erreichbar ist.

Natürlich ist es gut und löblich, dass auf all diese „Defizite“ helfend, fördernd und maßgeschneidert eingewirkt wird. Das ändert aber nichts daran, dass immer mehr Menschen in dem Gefühl aufwachsen defizitär zu sein.

Das ist keine neue Erfindung.

Jahrhunderte haben sich Menschen als sündig empfunden und in Scham gelebt.
Sie haben zwischen Todsünden, Erbsünden, lässliche Sünden unterschieden, ausufernde Sündenlisten und Bußkataloge erstellt.

Ich sehe keinen – wirklich keinen – Grund an diese Traditionen anzuknüpfen.

Foto: Traveler_40

Der Vollständigkeit halber hier der anstoßgebende Wortwechsel auf Twitter:
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