Haben oder Sein

Haben oder Sein

Illustration: Adriano Kleiner (alle Rechte vorbehalten)

Es erstaunt mich, wie emsig viele Leute ihre privaten Kurznachrichten, Blogposts und Schnappschüsse mit Wasserzeichen, ©, ® und umfangreichen Warnhinweisen versehen, um etwas zu schützen, von dem sie sagen, es sei ihr geistiges Eigentum. Was tun sie im Internet? Warum behalten sie nicht für sich, was sie eigentlich nicht teilen möchten?

Dann fällt mir Sonja ein. Sonja saß von der 2. bis zur 4. Klasse neben mir. Wir sahen uns ein bisschen ähnlich und konnten beide ein bisschen besser malen als der Durchschnitt. Hauptsächlich malten wir Pferdeköpfe mit Blumen, Gesichter mit Haaren und Hasen mit Knickohren. An den Knickohren wäre beinahe unsere Freundschaft zerbrochen. Denn die waren Sonjas geistiges Eigentum. Die hatte sie zuerst gemalt. Darum war das Malen von Knickohren für mich bei Strafe verboten. Also malte ich in Sonjas Regierungsbezirk nur Hunde mit Hänge- und Herrn Lindemann, unseren Klassenlehrer, mit Segelohren.

Sonja war mit ihrer Angst vor Genialitätsraub keine Ausnahme. In unserer Klasse war es durchaus üblich, sich hinter Scout-Ranzen und Diercke-Weltatlanten zu verschanzen, um neugierige Blicke abzuwehren. Ich war irritiert und fühlte mich in meiner Ehre gekränkt. Als wenn ich es nötig gehabt hätte abzuschreiben! Wahrscheinlich nahm meine Begeisterung für’s Abschreibenlassen und Ghostwriting genau hier ihren Anfang.

Ich merkte ziemlich schnell, dass mir fremde Arbeiten nicht nur sehr viel mehr Spaß machten als meine eigenen, sondern auch, dass der Erfolg meiner Mühen weit größer war, wenn sie mit Rechtschreibung und Schönschrift angereichert präsentiert wurden (denn diesbezüglich bin ich absolut talentfrei). Und der Aufmerksamkeits-Junkie in mir nahm mit Befriedigung zu Kenntnis, dass die Vervielfältigung meiner Knickohren das Lehrpersonal dazu brachte, meine Überlegungen nicht nur einmal zu überfliegen und ihre Gewohnheitsnote drunter zu setzen, sondern ein zweites Mal unter anderem Namen und mit anderen Vorurteilen zu lesen.

Nebenbei profitierte ich natürlich von den sorgfältigen, entzifferbaren und vollständigen (!) Mitschriften, die mir als Arbeitsgrundlage zur Verfügung gestellt wurden. Und natürlich bekam ich ganz selbstverständlich Hausaufgaben zugesteckt, wenn ich sie vergessen hatte. Doch was viel wichtiger als der gegenseitige Nutzen war: Wir wurden Freunde! Es entstand Gemeinschaft mit einer Spur Verwegenheit und Aufregung. Vor allem die waghalsigen Täuschungsmanöver schweißten uns zusammen. Egal, ob wir damit durchkamen oder aufflogen. Heute frage ich mich, ob manche Lehrer nicht bewusst ein oder zwei Augen zudrückten, weil sie eigentlich gut fanden, was wir da machten und ganz nebenbei lernten: Kooperation. Das Unterlaufen einer erzwungenen und vielfach destruktiven Konkurrenzsituation im Schulbetrieb.

Auf diese Weise habe ich nie lernen müssen, ganz allein vor mich hin zu werkeln. Darum kann ich das auch nicht. Weder für Ruhm und Ehre noch für Geld. Ich brauche Input und Feedback, um wirklich produktiv zu sein. Ich möchte gebraucht, geschätzt, gelobt und gewollt werden. Für mich ist Kreativität vor allem Kommunikation: zwischen den Mitwirkenden, zwischen kollektivem Wissen und individueller Perspektive, zwischen Medium und Inhalt, zwischen Ergebnis und Rezipient. Sie ist Fluss und Bewegung. Kontrovers, chaotisch, harmonisch, spannend, blitzgescheit und überfliegend. Natürlich läuft da nicht immer alles rund. Manchmal wird man übervorteilt, ausgebremst oder zu Spam verwurstet. Kompromisse gehören dazu. Trotzdem bestätigt es sich immer wieder: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Perfektion ist polyphon. Sie braucht mehr als eine Stimme.

Für Erich Fromm zeichnen sich Denkweisen, die sich vom Gedanken des Habens gelöst haben und sich der Sicht des Seins verpflichtet fühlen, dadurch aus, dass sie den einzelnen Mensch zur aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben motivieren. Das kann ich gar nicht oft genug unterstreichen und unterschreiben. Es geht um die aktive Teilnahme. Um’s Mitmachen. Um’s Dabeisein.

Und unterm Strich? Da sollte es gerecht zugehen. Klar. Aber wenn nicht?

Dann war’s eben das erste und letzte Projekt in dieser Zusammensetzung. Dann nehme ich mein geistiges Eigentum – die Summe all meiner Fähigkeiten – und gehe. Denn das, was ich BIN, ist so viel mehr wert als die Produkte meines Tuns. Darum ist es langfristig eine ausgesprochen dumme Entscheidung, mich zu übervorteilen. Es lohnt sich nicht.

Nur mit Knickohren kommt man auf Dauer nicht weit – auch nicht, wenn man sich ein Monopol darauf gesichert hat. Und das Rad ist ja schon erfunden.