Angst vor Männern
Foto: Pfahler.
Menschen kommunizieren. Ich höre und sehe ihnen dabei zu. Manchmal mache ich auch mit, mische mich ein, beziehe Position. Wenn es laut wird, halte ich mich gern raus. Verhärteten Fronten versuche ich auszuweichen.
Mein Sprechen und Denken ist recht bildhaft, um nicht zu sagen gegenständlich. Ich mag konkrete Vorstellungen – auch von abstrakten Begriffen. Damit verkürze ich die Wirklichkeit. Denn die Wirklichkeit ist mir zu komplex. Sie passt nicht in meinen Kopf. Ich kann sie anstarren, über sie staunen, sie bewundern. Aber ich kann ihre Vielfältigkeit nicht denken, nicht kommunizieren.
Darum reduziere ich Komplexität und denke in Schubladen. Anders geht es nicht. Doch lieber als das Bild mit den Schubladen ist mir der Vergleich mit einem Hütchenspieler. Blitzschnell lässt er des Pudels Kern von einem Begriff unter den nächsten rollen. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzt er auf, doch man kommt nicht hinterher, bekommt ihn nicht gefasst. Nie bin ich mir sicher, unter welchem Hütchen die Wahrheit steckt, welches Hütchen im Recht ist. Doch bin ich bauernschlau genug, um zu merken, dass es in diesem Spiel eigentlich nur darum geht: Um’s Besiegen.
Einige Menschen beherrschen das Spiel mit der versteckten Wirklichkeit bis zur Perfektion. Sie verdrehen die Worte, argumentieren im Kreis, schlagen Haken, lenken ab, schnitzen aus scheinbar logischen Schüssen paradoxe Killerphrasen und haben immer das letzte Wort. Und ich bin bauernschlau genug, um zu merken, dass es eigentlich nur darum geht: Um’s Besiegen.
Manche Themen – Diskurse (sic!) – ziehen passionierte Hütchenspieler geradezu magisch an. Die meisten enden auf „-ismus“. Oft sind sie ähnlich komplex wie die Wirklichkeit. Aufgrund dieser Gemeinsamkeit geben sie gern vor, selbst die Wirklichkeit zu sein. Andere sind eher simpel gestrickt und benutzen besonders große Hohlkörper für ihr Spiel. Deren Wirklichkeit heißt „Wahrheit“ und wird von ihren Anhängern gepachtet. Besonders stolz sind sie allesamt auf ihre Objektivität. Außerdem wollen sie nur das Beste für Andersdenkende. Das nennen sie „Bekehren“. Doch ich bin bauernschlau genug, um zu merken, dass es auch hier nur darum geht: Um’s Besiegen.
Gestern bin ich über einen hütchenspielenden Blogbeitrag gestolpert. Ich werde ihn nicht verlinken, obwohl er wirklich schön formuliert ist. Jedenfalls werden Feminismus und Rassismus gegeneinander ausgespielt – mit dem (von mir unterstellten) Ziel dem Maskulismus das Prädikat „objektiv“ zuzuspielen. Ich war bauernschlau genug, um zu merken, dass es wieder mal nur darum ging: Um’s Besiegen.
Eigentlich gehen mir solche Auseinandersetzungen am Allerwertesten vorbei. Denn (siehe oben): Wenn es laut wird, halte ich mich gern raus. Verhärteten Fronten versuche ich auszuweichen. Doch diesmal war ich nicht schnell genug. Ich wurde versehentlich erwischt. Es entstand ein Kollateralschaden. Das Geschoss: Die Angst vor einer Vergewaltigung.
Dazu werde ich etwas schreiben. Es ist mir wichtig. Ich möchte niemanden damit bekehren. Vielmehr möchte ich es allen Menschen ins Gehirn prügeln, für die es keine Selbstverständlichkeit ist. Ich weiß, dass ich das nicht kann. Aber ich möchte es:
Gewalttätige Übergriffe eignen sich niemals zur Verallgemeinerung. Niemals!
Jede persönliche Gewalterfahrung, jedes einzelne begangene Unrecht und jede Grenzverletzung – jedes einzelne verdient eine eigene Schublade. Einen geschützten Raum, im dem es sich erholen und eine Wirklichkeit verarbeiten kann, die so, wie sie war, einfach nicht hätte sein dürfen.
In der einen Schublade, deren Inhalt ich jetzt kurz umreiße, herrscht Krieg. Eine Frau ist auf der Flucht. Sie hat ein Kleinkind dabei. Ihr Mann ist an der Front, vielleicht ist er schon gefallen – das weiß ich nicht. Er hat dort an der Seite von Soldaten gekämpft, die Frauen vergewaltigten, nachdem sie ihre Häuser gestürmt hatten. Vielleicht hat er sich ihnen angeschlossen – auch das weiß ich nicht – doch möchte ich das nicht glauben. Nun ist seine Frau auf der Flucht. Vor den Männern, Vätern und Söhnen dieser vergewaltigten Frauen. Sie ist nicht nur auf der Flucht vor vergewaltigenden Soldaten, sondern auch vor Bomben, Panzern, Maschinengewehren, vor dem Hunger, blinder Zerstörungswut, der Kälte und dem allgegenwärtigen Tod. Das Kind teilt ihre Todesangst. Furchtsamkeit gräbt sich tief in sein Denken, Fühlen und Verstehenwollen. Sie prägt sein Weltbild und sein Leben. Das Kind sieht mit an, wie diese Frau vergewaltigt wird. Sie ist seine Mutter.
Das Kind hat überlebt und ist ein Mann geworden. Er hat meine Mutter geheiratet, seine Mutter begraben und eine Tochter bekommen. Mich. Als ich in die Pubertät kam, sagte er: „Wenn Dir das passiert, dann ist Dein Leben versaut.“ Ich sah in seinen Augen, dass er wusste, wovon er sprach. Es war mehr als ich aushalten konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzt er auf: der wahre Kern meiner ungreifbaren aber alles umfassenden Lebensangst. Doch komme ich nicht hinterher. Ich bekomme ihn nicht gefasst.
Mit diesem Satz hat sich meine allgegenwärtige Furcht als Schatten eines Kriegsverbrechens zu erkennen gegeben, das über 40 Jahre zuvor an meiner Großmutter verübt worden war. Eine einzige Vergewaltigung machte die Weiblichkeit eines jungen, wohl behüteten Mädchens zu einem längst gefällten Todesurteil, das jederzeit und überall vollstreckt werden konnte. Und das ohne, dass mir selbst auch nur ein Haar gekrümmt worden wäre. Sie machte es mir unmöglich Männern zu vertrauen. Einfach so. Ohne jeden aktuellen Anlass.