Bin ich wirklich traurig? Oder lediglich depressiv?
Ich bin aufgestanden, habe den Hund mit den von der Katze verschmähten Resten gefüttert, meinen Kaffee mit passiv-agressiver Bescheidenheit durch eine benutzte Filtertüte aufgegossen, die letzte Folge einer sentimentaler Serie ohne Happy End angesehen und mich um das Weinen gekümmert, das sich in den letzten Tagen angesammelt hat. Vielleicht waren es auch Wochen. Keine Ahnung, wann die Gefühle diesmal ins Stocken geraten sind und sich angestaut haben. Ist auch nicht wichtig. Jetzt bin ich jedenfalls voll damit. Jetzt steigt der Druck im Kopf und im Hals, der Magen verkrampft sich, die Knie werden weich und die Traurigkeit pocht in den Schläfen auf ihr Recht. Eine Stimme im Präfrontalkortex faselt was von Selbstmitleid und Peinlichkeit. Zur Entschuldigung berufe ich mich auf meinen diagnostischen Berechtigungsschein: Hey, kein Grund zur Aufregung, das muss so, alles gemäß ICD, alles unter Kontrolle. Hier wird nur geweint, nichts weiter.
Ich denke an meine tapfere Mutter, wie sie sich über ihre jammernden Freundinnen beschwert, die sich nicht aufraffen. Man muss sich eben zwingen. Mit Mitte 80, wenige Monate nach dem Tod des Menschen, mit dem man ein halbes Jahrhundert verbracht hat? Ich sage was mit Trauer. Sie sagt: Nein, das ist doch keine Trauer. Ich frage mich, was wohl Trauer für meine Mutter ist – das frag ich mich, nicht sie. Wir reden nicht miteinander, sondern rücksichtsvoll aneinander vorbei. Schließlich kommt sie zu der Einschätzung, dass das eine richtige kleine Depression sei und die Freundin vielleicht in eine Klinik sollte. Es klingt resigniert und vorwurfsvoll. Ich erkenne den Klang von innen – er ist kalt und selbstgerecht. So hab ich auch schon geklungen, obwohl ich meiner Mutter natürlich nicht das Wasser reichen kann beim Sichzwingenaufzustehen – meiner starken, tapferen Unkraut-vergeht-nicht-Mutter, dem Kriegskind, dem Stehaufmännchen, das keine Tabletten nimmt, nur Chinaöl. Die guten Abwehrkräfte hab ich von ihr – die Schwächen und den desolaten Rest von meinem Vater. Dagegen nehme ich seit 12 Jahren Tabletten. Nicht viele, nur eine am Abend, prophylaktisch, vielleicht auch übertrieben, aber das ist es mir wert.
Ich denke an #notjustsad und frage mich, wie anders man aufgewachsen sein muss, um Traurigkeit und Depression mit dieser Gewichtsverteilung gegeneinander auszuspielen. Finde das absurd. In meine Tränen mischt sich Wut, und ja, tatsächlich auch Selbstmitleid. Denn ich bin nicht lediglich depressiv. Ich bin traurig. Denn da sind Gründe, keine psychische Fehlfunktion. Nicht der Rede werte Gründe vielleicht, aber viele davon. Beschwichtigt und gehortet über ein halbes Jahrhundert. Ich bin nicht defekt und auch kein Unkraut, bloß ein trauriges Lebewesen.
Foto: Bruno Kelzer