Die Ehrlichkeit der Anderen
Auf die Frage danach, welche Eigenschaft mir an einem Menschen die wichtigste ist, antworte ich spontan mit „Ehrlichkeit“. Das fühlt sich durchaus ehrlich und begründet an. Doch je länger ich darüber nachdenke, ob diese Wertung denn für alle Beziehungen und jede Gelegenheit so stimmt, desto mehr Umstände fallen mir ein, unter denen mir eine charmante Gefälligkeit deutlich lieber ist als eine ungeschminkte Wahrheit. Bei Kollegen, Kunden und Nachbarn schätze ich durchaus einen – nennen wir es mal diplomatischen Umgang miteinander:
Man muss nicht immer alles sagen, was man denkt.
Dementsprechend schweigsam bin ich bisweilen und verberge unliebsame Gedanken hinter einer mürrischen „Frag-lieber-nicht!“-Fassade.
Seit ich in der Kölner Bucht lebe, stößt diese Form der nonverbalen Konfliktvermeidung leider oft an ihre Grenzen. Der gesellige Rheinländer lässt sich in seinem Kommunikationsbedürfnis nur selten durch eine in Falten gelegte Stirn und die beharrliche Einsilbigkeit einer Zugezogenen beirren. Er bleibt einfach nett, gesprächig und jovial. Mittlerweile habe ich diese Fähigkeit, Gespräche lockerflockig an der Oberfläche zu halten, um zwischenmenschliche Konflikte gar nicht erst laut werden zu lassen, durchaus schätzen gelernt und mir einen (wenn auch radebrechenden) Grundwortschatz in rheinischem Smalltalk erarbeitet. Wo in meiner Heimat eisernes Schweigen die einzige Möglichkeit war, ehrlich zu bleiben ohne verletzend zu werden – kann ich mittlerweile über das Wetter reden, Scherze machen oder allseits einen guten Appetit wünschen.
Und ganz ehrlich: es fühlt sich nicht falsch an.
Aber manchmal wird es das.
Wenn nämlich die Freundlichkeit der Anderen nicht zu ihrem Verhalten passt und sich vereinzelte Irritationen zu einem Gesamtbild formen, um sich als Kloß im Hals und Stein im Magen bemerkbar zu machen…
Dann möchte ich schweigen dürfen, ohne mich erklären zu müssen.
Foto: txmx-2 via Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)