Frisch geträumt, genau so.
Mein Vater ist gerade gestorben. Die Beerdigung ist für den kommenden Tag angesetzt. Aus irgendwelchen Gründen (wahrscheinlich unzureichende Organisation meinerseits) muss ich den Leichnam selbst abholen, bin mit dem Fahrrad da und komme nicht sehr weit. Also lasse ich den Vater im Sarg auf halber Strecke an einer Straßenbahnhaltestelle stehen.
Am nächsten Morgen ist der Sarg aufgebrochen und der tote Vater weg. Ich schlage vor, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, und die leere Kiste zu bestatten – bin aber selbst nicht überzeugt, weil die ziemlich ramponiert aussieht und der tote Vater ja später noch irgendwo auftauchen könnte. Und wie erklärt man das dann? Meine Mutter sagt sowieso nein und findet alles ganz schlimm, aber (meine Unterstellung) nicht ganz so schlimm wie ich. Sie ist schließlich nicht schuld am Schlamassel, sondern ich.
Am Friedhof angekommen, sind alle schon da. Viele strenge Baptisten-Verwandte aus Uslar, wo mein Vater seine Kindheit und Jugend verbracht hat, und die Sargträger natürlich. Denen erzähle ich von meinem Versagen und hoffe auf Unterstützung. Fachmännisch wird der Sarg begutachtet: Ja, wirklich viel zu leicht und schließt auch nicht mehr richtig. Das fällt auf jeden Fall auf. Jemand kommt auf die Idee, bei der Polizei anzurufen und nachzufragen, ob Papa vielleicht dort abgegeben wurde. Und tatsächlich, er wartet gut gekühlt auf der Wache! Ich bedanke mich überschwänglich.
Kurze Zeit später wird der Vater von einem linksalternativen Bestattungsinstitut gebracht, das ich kenne und toll finde. Ein feministisches Künstlerkollektiv ist mit von der Partie. Die sind eigentlich auf Tournee, bieten aber an, spontan bei der Trauerfeier aufzutreten. Ich bin ganz aus dem Häuschen und finde das total nett. Inzwischen ist auch ein hochbetagter Pastor eingetroffen – oh, der passt jetzt gar nicht zur wahrscheinlich eher extravaganten Darbietung der Theatertruppe. Außerdem fällt mir auf, dass ich versäumt habe, im Vorfeld mit ihm zu sprechen. Naja, den Namen wird er schon wissen und die Sache mit der Auferstehung ist ja konfessionsunabhängig. Sollte also halbwegs passen.
Das Spektakel beginnt. Ich sitze ganz vorn und weine sturzbachartig – hauptsächlich vor Erleichterung, aber auch weil mich die kopfschüttelnde Belustigung meines Vaters aus dem Jenseits tröstet: „War ja nicht anders zu erwarten!“ Er sieht das jetzt ganz entspannt, weil er den Skandal nicht mehr miterleben und für mich grade stehen muss. Es wird tatsächlich sehr laut, sehr experimentell und sehr politisch. Barbusige Frauen proklamieren provokante Wutreden und präsentieren eine Pina-Bausch-würdige Körperperformance. Schlimmer geht nimmer. Die Baptistenverwandtschaft windet sich vor Scham und Empörung. Meine Mutter konzentriert sich auf die Sache mit der Auferstehung.
Ich wache auf und habe das Gefühl, ein fehlendes Puzzelstück gefunden zu haben. Irgendwas ist jetzt rund, und das ist sehr leicht und schön.
Foto: Joshua Fuller