Mein Radius
Das Jahr ist erst ein paar Stunden alt. Doch es knallt nur noch vereinzelt. Draußen fegt der Nachbar die Pappfetzen aus dem Rinnstein, damit alles wieder seine Ordnung hat. Mit dem Kaffeebecher in der einen und dem Smartphone in der anderen Hand stehe ich vor der Heizung und lese einen belesenen Blogbeitrag unter den Titel Gelebter Faschismus: @blockempfehlung.
Vor meinen Füßen schnurrt der Kater. Ich mache ein Foto und speichere es unter „glueck.jpg“. Das tippt sich schneller als „Geborgenheit.jpg“. Ich lese:
Julian Rotter (1954) würde ihnen vermutlich einen externen Locus of Control attestieren, der sie Handlungsfähigkeit nur daraus gewinnen lässt, dass sie kein eigens Urteilsvermögen reklamieren, es vielmehr durch Gefolgschaft ersetzen.
Die Argumentation erscheint mir plausibel. Ein paar Mal denke ich: „Hachja, das kenne ich …“ und dann wird es ziemlich unbequem: „… von mir.“ Also stehe ich vor der Frage:
Warum muss die eigene Vorstellungswelt gegen abweichende Meinungen und Andersdenkende abgeschirmt werden?
Die Antwort in meinem Kopf: „Weil es eben schlimm ist, wenn der Boden unter den Füßen wegbricht.“ Dieser Gedanke ist keine logische Erklärung, sondern eine Erinnerung. Vielleicht ist es auch ein roter Faden, der sich durch viele meiner Erinnerungen zieht. Denn der Boden dessen, woran ich geglaubt, worauf ich vertraut habe, ist schon oft gebrochen. Und eigentlich beginnt es immer gleich: Mit einer beiläufigen Irritation, mit einer abweichenden Meinung, die mich plötzlich wach werden lässt. Adrenalinwach. Und da ist er dann wieder: Der erste leise Zweifel. Ich werde ihm nachgehen. Schritt für Schritt. Das sind keine forschen, sondern widerwillige, zögernde Schritte. Ich habe keine Freude daran, mein Weltbild dekonstruieren zu lassen und den Halt zu verlieren. Doch es gibt keine Alternative – lediglich Verzögerungstaktiken. Früher oder später werde ich die Einschläge nicht mehr überhören können. Also bringe ich es hinter mich und stelle mich.
Vor meinen Füßen schnurrt der Kater. Nach den Einschlägen der letzten Nacht hat er sich in dem kleinsten zur Verfügung stehenden Korb zusammengerollt. Er hat die kleinste seiner Welten gewählt, um zur Ruhe zu kommen. Wir haben viel gemeinsam, der Kater und ich. Wir mögen kleine Welten. Ein überschaubares kuscheliges Leben ohne Ecken und Kanten. Wir sind nicht dumm genug, unsere Körbe und Krücken für eine objektive, allseits verbindliche Realität zu halten. Aber könnten wir wählen, würde zumindest ich ein Körbchen wählen. Ein festes, unsinkbares Körbchen auf hoher See: Das wäre meine Vorstellung von perfekter Freiheit. Es ist mir nicht wichtig, die Richtung zu bestimmen. Ich muss auch nicht gegen den Strom schwimmen. Gerne lasse ich mich treiben und vertraue mich Kräften an, die größer und stärker sind als ich.
Doch ist es nur eine Frage der Zeit bis plötzlich ein Stöckchen, Zweige und Blätter an mir vorbeiziehen und mich aufmerken lassen. Und da ist er dann wieder: Der erste leise Zweifel an der Tragfähigkeit der Nussschale meines Denkens. Irgendwann werde ich das Tosen hören, dann kommt der Wasserfall, fallen, strampeln, überleben, ans Ufer schwimmen und ein neues Körbchen flechten.
Vielleicht gibt es Menschen, die stark genug sind, ein ganzes Leben lang allein aus eigener Kraft zu schwimmen: im stetem Wettstreit um die Richtung und im Kampf mit Strömung, Wind und Wellen. Die Selbstgewissheit des Blogbeitrags legt nahe, dass das möglich ist. Wenn ich schreibe, dass ich eine solche Autonomie im Denken bewundere, ist das kein bisschen ironisch gemeint. Aber selbst habe ich weder diese Durchsetzungsstärke noch die Gewissheit, über methodische Zweifel erhaben zu sein. Es kommt vor, dass ich mich für verrückt oder dumm halte, nicht weiß wo unten und wo oben ist. Und natürlich sehne ich mich nach Halt, nach unverrückbaren Werten!
Trotzdem bin ich kein Faschist, kein Extremist, kein Evangelist und auch kein Masochist. Ich verstehe und teile das Bedürfnis nach einer schützenden, starken, gerechten und unzerstörbaren Überzeugung. Nach einem sicheren Platz in der Welt. Ich wäre gern in der Hand eines allmächtigen, gerechten Gottes geborgen, der mir sagt, dass ich gut und richtig bin, dass mir kein Leid widerfahren wird, dass allseits für mich gesorgt ist und ich meiner Wahrnehmung vertrauen kann. Ich läge gern schnurrend in einem zu kleinen Körbchen vor der Heizung. Ungestört von der Welt da draußen, der ich mich an Tagen wie diesen nicht sonderlich gewachsen fühle.
Ist das wirklich ein Bedürfnis oder nur eingebildet? Wie auch immer. Selbst wir auf ScienceFiles leisten uns unseren kleinen Dogmatismus, aber er ist eben nicht inhaltlicher Natur sondern formaler. Überzeugungen MÜSSEN der empirischen Prüfung zugänglich sein und sie müssen mit der Empirie, dem, was wir wissen, im Einklang stehen. Es wäre doch zu dumm, wenn man jahrzehntelang an seiner Überzeugung festhalten würde, nur um dann kurz vor seinem Tod festzustellen, dass es gar nicht unter Strafe steht, den Mund abweichend und kritisierend aufzumachen und dass es zudem dem gegenseitigen Verständnis zuträglich ist, wenn man die eigene Überzeugung in Frage zu stellen bereit ist, weil man dann diejenigen, die anderen Überzeugungen haben, nicht generell als Feinde oder Personen, mit denen man nichts zu tun haben will, von denen man nichts hören will, die einfach weggehen sollen, beschreiben muss.
Insofern empfehle ich den Mut zum Hinterfragen der eigenen Überzeugungen – ungeheuer bewusstseinserweiternd!
Möglicherweise liegt es an meiner mangelnden Intelligenz oder Methodenkompetenz, möglicherweise wirft aber auch Wissenschaftlichkeit mitunter Fragen und Zweifel auf und setzt blindes Vertrauen voraus. Ich kann nicht jede Quelle prüfen, bin mir vieler Prämissen meines eigenen Denkens nicht bewusst und bin auch schon in etliche Denkfallen vordergründiger Logik getappt. Wie geschrieben: Ich bewundere die Selbstsicherheit, sich in den eigenen Schlussfolgerungen so sicher zu sein, dass man sich traut anderen Menschen eine faschistische Denkweise zu unterstellen. Die Selbstsicherheit – nicht die Unterstellung. Hilfestellung im Denken scheint mir bei derartiger Überlegenheit nämlich weit angebrachter.
Hilfestellung setzt voraus, dass das Gegenüber auch Hilfe annimmt. Wir sind ein liberales Blog, d.h., wir analysieren die Realität und stellen Konklusionen auf, mit denen muss dann jeder machen, was er kann/will. Ich halte überhaupt nichts davon, andere so zu entmündigen, dass man ihnen vorgibt, was sie richtigerweise denken sollen. Ich glaube an die Intelligenz und Lernfähigkeit von Menschen und an Moral, (als Kantianer), d.h. wer gesagt bekommt, dass sein Verhalten aufgrund bestimmter Kriterien nicht anders als faschistisch einzuordnen ist, der hat zwei Möglichkeiten: Er kann diese Aussage in Bausch und Bogen ablehnen und die entsprechende Kritik als Unfug abtun, er kann auch eine moralische Qualität offenbaren und die Empathie aufbringen, sich zu fragen, wie dieses Urteil zustande kommt, um dann im nächsten Schritt zu prüfen, ob es zutrifft. Letzteres erfordert indes eine moralische Reife, von der Kant gemeint hat, sie allein qualifiziere den Menschen und die man leider nicht voraussetzen kann…
Soweit ich diesen Aspekt der Kritik der Urteilskraft richtig verstanden habe, trennt Kant systematisch zwischen objektiven Erkenntnissen und subjektiven Urteilen. Urteile, die (wie bspw. eine Faschismus-Diagnose) einer Aburteilung sehr nahe kommen, erschweren das Nachvollziehen für diejenigen, deren Denken die Argumentation korrigieren und weiterbringen könnte. Stattdessen ist sie Wasser auf die Mühlen derer, die nach emotional aufgeladenen Begriffen dürsten, um eigene Polemiken zu befeuern. Hier lässt sich die wissenschaftliche Argumentation womöglich zum Helfershelfer für Hetzkampagnen machen. Das finde ich problematisch. Autonomie im Denken und der Mut sich allen daraus erwachsenden Konsequenzen zu stellen ist keine Selbstverständlichkeit. Das fällt nicht in den Schoß, sondern ist ein nicht immer angenehmer Wachstumsprozess. Ich glaube nicht, dass das Land, in dem ich heute lebe, besser gegen eine faschistische Bewegung gewappnet ist als in den 30ern. Darum finde ich es nicht sehr zielführend, sich den Wurzeln totalitärer Denkstrukturen mit Begriffen zu nähern, die emotional so stark aufgeladen sind. Wer jeden Feigling als Faschisten tituliert, befördert die Einsicht in die eigene Feigheit nicht gerade. Und genau diese Einsicht könnte dabei helfen, den Mut aufzubringen, sich faschistoiden Systemen zu widersetzen.