Twitter, du alte Ehe
Wie können Medien sozial sein, wenn sie keine Arme haben?
Leider weiß ich nicht mehr, wo ich diese Frage gelesen habe. Vielleicht war sie ursprünglich anders formuliert, weshalb sich die Quelle nun nicht mehr ausfindig machen lässt. Sicher ist, dass mich das Bild in dieser Frage seit langem begleitet. Und immer wieder erlebe ich, wie es ausgerechnet die anonyme Weite des Internets schafft, dass plötzlich Arme da sind, wenn sie gebraucht werden. Arme, die mit anpacken, die festhalten, wachrütteln und an die Hand nehmen. Arme von realen Menschen mit sozialen Motiven und echten Gefühlen.
Für mich haben soziale Netzwerke tatsächlich Arme. Sie stiften Verbindung und setzen Menschen, Gedanken und Systeme zueinander in Beziehung. Sie sind kein künstliches Surrogat für natürliche Sozialkontakte – sie sind einfach eine Möglichkeit durch Kommunikation in Kontakt zu treten.
Was können 140 Zeichen schon über einen Menschen aussagen?
Sehr oft nichts und manchmal alles. Da gibt es dieses Klischee langer glücklicher Ehen, in denen tiefe Liebe irgendwann in einem Nicken Platz findet. Nicht das Nicken ist besonders – die gemeinsam verbrachte Zeit ist es, die Bedeutung trägt. Kein noch so tiefsinniges Gespräch kann Menschen einander so klar erkennen lassen wie die Millionen alltäglicher Kleinigkeiten gemeinsam durchlebter Tage. Und natürlich birgt die Gewohnheit auch die Gefahr aneinander vorbei zu leben. Eingespielte Routine statt echter Auseinandersetzung, Langeweile statt Aufmerksamkeit.
Und was soll dieser romantische Kitsch jetzt mit Twitter zu tun haben?
Eiserne Hochzeiten und Twitter haben eins gemeinsam: Sie brauchen Zeit. Darum ist Twitter (glaube ich) etwas für Gewohnheitsmenschen – so ein bisschen wie Straßenbahnfahren. Passionierte Pendler, die täglich im ÖPNV unterwegs sind, erleben unterwegs unzählige kuriose Kleinigkeiten. Ich würde sogar behaupten, dass es einen exklusiven Insider-Humor gibt, den Sonntagsfahrer nicht verstehen können. Wer nun (animiert von meiner Begeisterung für nächtliche Dorfbusfahrten) auf tolle Erlebnisse und spannende Begegnungen hofft, wenn er sich zum ersten Mal auf eine Sammelbeförderung einlässt, wird zwangsläufig enttäuscht. Wer aber Freude daran hat, am Fenster zu sitzen, Personen und Landschaften zu beobachten, in Ruhe Zeitung zu lesen, Börsenkurse zu verfolgen, Gesprächen zuzuhören, die einen nichts angehen und fremden Müttern selbstverständlich beim Aussteigen mit dem Kinderwagen hilft: Der ist bei Twitter wahrscheinlich gut aufgehoben.
P.S.: Eine, die gern und wunderschön über ihre Beobachtungen in den Bussen, Bahnen und Zügen der Schweiz twittert, ist übrigens die @akkordeonistin. #ff, wärmste Folgeempfehlung.
🙂