14 Jahre später
Nun bin ich wirklich hingefahren. Nach 14 Jahren. Ich wusste nicht, dass es 14 Jahre waren. Jeder, der dort mit mir sprach, konnte sich besser an mich erinnern als ich mich selbst. Also war ich mein eigenes Double. Völlig unzureichend informiert und ohne Proben.
Du bist ja noch zu den Beerdigungen der Alten gekommen.
Der Satz bleibt in mir stecken. Er stimmt. Ich erinnere mich an diese drei Abschiede. An die Gespräche in meinem Kopf. Lächelnde, leichte Gespräche mit den Alten, die es nun nicht mehr gab. An das gute Gefühl, endlich unverstellt und unwidersprüchlich mit ihnen reden zu können. Aber auch an mein aberwitziges Bemühen den Blicken der Jungen auszuweichen – unansprechbar zu bleiben. Wie wenig ist mir das gelungen. Ein schwarzes Schaf, dass ausgerechnet dann zur Herde zurückkehrt, wenn es der Brauch vorsieht, dass alle schwarz tragen. Das zu spät kommt, rauchend ein paar Schritte abseits steht und zu früh wieder fährt.
Nachdem die Alten beerdigt waren, gab es keine Todesfälle mehr. Und so blieb ich 14 Jahre lang weg. Ich kam nicht in die Verlegenheit, „zufällig in der Gegend“ zu sein. Der Führerschein, den ich nicht machte, lieferte eine – wenn auch fadenscheinige – Entschuldigung dafür, dass ich nicht „einfach mal so“ vorbeischauen konnte.
Doch nie wollte ich irgendjemanden vor den Kopf stoßen. Nie habe ich schlecht über sie gedacht. Ich wollte dort einfach vergessen werden. Niemand sollte sich Gedanken darüber machen, warum ich nicht mehr da war.
Und nun bin ich wirklich hingefahren. Jeder, der mit mir sprach, wusste Dinge, die dort während meiner Abwesenheit über mich erzählt worden waren. Dinge, von denen ich nichts weiß. Dinge, die sich aller Wahrscheinlichkeit nicht mit dem decken, was ich selbst an mir kenne. Dinge, die nicht ausgesprochen, sondern als „Wirklichkeit“ vorausgesetzt werden.
Unter dem stockenden Austausch von Unverfänglichkeiten schimmerten ganz vorsichtig offene Fragen hindurch. Gedanken darüber, warum ich nicht mehr da war. Oder wer ich überhaupt war. Es fühlte sich freundlich, warm und wohlwollend an, was da aufblitzte. Vor allem bei denen, die vor 14 Jahren noch Kinder waren. Schneeweiße, puschelige Lämmchen mit offenem Blick. Heute stehen sie zuversichtlich und mit beiden Beinen in ihren fehlerfrei gestrickten Leben. Für sie scheint diese Herde noch immer Heimat, Zusammenhalt und Geborgenheit zu sein. Ein Ort, an den sie gern und oft zurückkehren. Ein Ort, mit dem sie gute und bunte Erinnerungen verknüpfen, die sie offen miteinander teilen. Und ich verstehe das irgendwie. Auch wenn es für mich ganz anders ist. Ich kann nicht erklären, was da mit mir schief gelaufen ist.
Aber ich habe plötzlich ein bisschen weniger Angst vor der nächsten Beerdigung.
Ein Lied über eine andere Geschichte in einem anderen Dorf: https://www.youtube.com/watch?v=gV_kvLNJ4Fo&feature=youtu.be (Danke für den Link! <3 )