Gute Nacht
Es ist zwei Uhr zwanzig. Ich bin wach, und das ist kein sehr gutes Zeichen. Ginge ich ins Bett, würde ich wohl einschlafen. Das wäre besser. Es täte mir gut. Ich habe es sogar versprochen. Mehrfach. Statt dessen sitze ich hier und lasse mühsam aufgesparte, sorgsam eingeteilte Zeit durch meine Finger rieseln.
Irgendwo las ich, die Nacht sei eine Hure. Vielleicht ist sie das ja wirklich. Verführerisch, ehrlos, käuflich, mit schweren Brüsten und einem erstaunlich großen Herzen. In ihrer Jugend zu hübsch und leichtsinnig, später zu fahrig und abgelenkt. Dann wurde sie gebrechlich. Fahles Licht legte sich wie Asche auf ihre dünne, gezeichnete Haut. Sie verlor das Gedächtnis, den Halt, das Schwarz und die Sterne. Eine Gefallene, die nie Engel war, keine Flügel hatte, nur Träume.
Es ist zwei Uhr zweiundvierzig. Die Nacht steht im Türrahmen und runzelt die Stirn. Dann lacht sie breit: „Schreib gefälligst ‚leichtes Mädchen‘, Du Schandmaul. Und streich das mit dem großen Herzen – das ist peinlich.“
Es ist drei Uhr. Sie schickt mich ins Bett. Will ihre Ruhe. Meint es gut mit mir. Jetzt komme ich mir blöd vor.
„Eigentlich sieht diese Nacht noch verdammt gut aus für ihr Alter. Heute ist sie sogar wunderschön – auch ohne Kerzenlicht.“
Das hatte ich wohl vergessen zu erwähnen.
Foto: „Rotlicht in Stockholm“ von Thomas Brauner