Twitter 1x1

Twitter 1×1

Gibt es ungeschriebene Gesetze für den privaten Umgang mit Twitter?

Wenn ja, lassen sie sich jedenfalls nicht so einfach recherchieren. Falls nicht, darf das bitte gern so bleiben. Ich habe auch keinesfalls vor, hier welche anzuregen. Vielmehr begleitet mein Getwitter von Anfang eine gewisse Unsicherheit. Das ist ein Gefühl, als hätte ich die eine wirklich wichtige Einführungs-Veranstaltung zum Thema Sozialverhalten verschlafen.

Auch im „wirklichen Leben“ passiert es mir leider immer wieder, dass ich nicht richtig zuhöre, wenn mir Leute vorgestellt werden. Anschließend verpasse ich die letzte Gelegenheit, um nachzufragen wie der Mensch überhaupt heißt, der mir da gerade sein Leben erzählt, oder sich als Entscheidungsträger für meine berufliche Zukunft entpuppt. Sehr unangenehm, sehr unhöflich, sehr ärgerlich. Es kommt auch vor, dass ich vor mich hin träume, und plötzlich fragt irgendjemand aus heiterem Himmel: „Und? Was sagen Sie jetzt dazu?“ In derartigen Fällen versuche ich mein Informationsdefizit so unauffällig wie möglich auszugleichen – wohlwissend, dass überall Fettnäpfe darauf warten, von mir betreten zu werden.

Wenn Sie sich in dieses Gefühl hineinversetzen können, wissen Sie in etwa, wie es mir so mit Twitter geht.

Was nun folgt, ist also eine subjektive, willkürliche, ganz sicherlich unvollständige Indizienliste meiner Spuren- und Fehlersuche nach einem verbindlichen „1×1 des guten Tons“ bei Twitter. Möglicherweise ist es auch nur eine Entschuldigung dafür, dass ich ausgerechnet Ihnen nicht folge, obwohl Sie und Ihre Tweets dies ohne Frage verdient hätten.

Twitter, der Nachrichtendienst
Recht häufig habe ich gehört, dass Twitter als Kanal für brandaktuelle Informationen genutzt wird. Das ist mir zu anstrengend. Also fallen politische Accounts mit hohem Informationsgehalt und vielen Links zum Tagesgeschehen recht schnell wieder aus meiner Timeline. Ich bin nicht permanent nebenbei online und bleibe auch nicht immer am Ball, sondern lese meist zeitversetzt, ausschließlich und „am Stück“.

Und diese Art des Lesens macht eher wenig Spaß, wenn ich mich für jeden autonomen Gedanken durch umfangreiche Chats, Danksagungen und Favstar-Retweets graben muss, die mich weder interessieren noch etwas angehen. Aus diesem Grund folge ich „Hochfrequenztwitterern“ eher selten bis gar nicht. Ihre Highlights werden mir vom Favstar-Bot ohnehin in die Timeline gespült.

Favstar
Ich schreibe nicht für Favs, aber ich orientiere mich an ihnen. Diese unmittelbare Rückmeldung für jeden einzelnen Gedanken ist eine ungemeine Bereicherung für mich und geht weit über den Twitter-Kontext hinaus. Seit ich schreibe, schreibe ich nicht aus einem inneren Bedürfnis. Schreiben macht mir einfach keinen Spaß. Es ist eine Art Krücke, wenn ich auf anderen Kommunikationswegen – aus welchen Gründen auch immer – scheitere. Ich will verstanden werden. Auf Teufel komm raus. Das ist manchmal sehr anstrengend. Für alle Beteiligten. Und je mehr ich mich bemühe, unmissverständlich zu formulieren, desto frustrierter bin ich, wenn es mir nicht gelingt. In diesem Bemühen um Verständlichkeit sind die Twitter-Sterne grandiose Wegweiser. Was viele Favs bekommt und oft zitiert wird, ist nicht erklärungsbedürftig. Sehr einfach, sehr demokratisch. Sterne zeigen Schnittmengen im Denken. Lauter kleine abstrakte Inseln, auf denen sich Kommunikation ausruhen darf, und wo sie neu ansetzen kann.

Tweets löschen
Mach ich. Aus den unterschiedlichsten Gründen: Tippfehler, Denkfehler, Stimmungsschwankungen, Mems, die niemanden mehr interessieren, Mentions. Denn meine Timeline ist weder die authentische Echtzeit-Dokumentation meines Lebens noch eine irrtumsbereinigte Fiktion. Sie liegt irgendwo dazwischen; wie ein Skizzenblock. Radieren ist zwar irgendwie uncool aber bei wem sitzt schon jeder Strich?
Für Twitterer, die es schaffen kontinuierlich gleichbleibende Qualität abzuliefern ohne zwischendurch Blödsinn zu posten, hege ich natürlich große Bewunderung. Allen voran @Ka_Punkt. Die Perfektion dieses Accounts kann ich mir nur mit Schwarmintelligenz erklären. Also stelle ich mir heimlich eine Gruppe belesener Feingeister vor, die sich wöchentlich trifft, um in langen und intensiven Diskussionen die sieben schönsten Gedanken auszuwählen …

Retweets
Ich retweete vergleichsweise selten und ganz selten synchron. Es gibt viele ungemein witzige, pointierte Tweets, die ohnehin mehrfach bei den Menschen ankommen, die mir folgen. Darum ist ein RT für mich vor allem ein „wenn Du magst, was ich schreibe, dann magst Du das erst recht.“

Folgen
Wenn mir jemand folgt, gehe ich erstmal davon aus, dass „Gemeinsamkeiten“ dahinter stecken, und erwarte Tweets, die mich interessieren. Dabei ist es mir eigentlich recht egal, ob das Retweets oder eigene Gedanken sind. Wichtig ist, dass ich Spaß am Lesen habe und mich als Außenstehende nicht langweile. Könnte ich Tweets ausblenden, die mich nicht interessieren, würde ich wahrscheinlich grundsätzlich zurück folgen, um niemanden vor den Kopf stoßen.

Entfolgen
Abgesehen von den Twitterern, die ich aus den unterschiedlichsten Gründen persönlich ins Herz geschlossen habe, gehöre ich zu den stimmungs- und situationsabhängigen Wechsel-Followern. Vor allem „Konzept-Twitterer“ mag ich selten länger als ein paar Wochen am Stück lesen, komme aber immer wieder gern auf sie zurück. Manchmal verschiebt sich auch einfach der Schlaf-Wach-Rhythmus und man twittert plötzlich aneinander vorbei. Oder ich bin neidisch, weil frisch verliebte Twitter-Paare miteinander turteln, während ich mir gerade die Haare raufe. Mein innerer Schweinehund hat auch schon Leute wegen ihrer Marathon-Selfies entfolgt. Oder weil sie Chips hatten. Ich genieße es sehr, diese niederen Instinkte einfach mal ausleben zu dürfen. Auf Twitter trage ich kaum soziale Verantwortung und muss mich nicht „kümmern“.

Auch das ist toll an Twitter.

Foto: Niall Kennedy