Sturm Schaden

Sturm Schaden

Foto: „Sturmschaden“ von fzurell.

Vorgestern verbrachte ich einen harmonischen Abend mit einer alten, sehr alten Freundin, die selten, sehr selten meiner Meinung ist. In den tausend Jahren, die wir uns nun schon kennen, haben wir uns so daran gewöhnt konträr zu diskutieren, dass wir ein wenig unsicher und auch ein bisschen ratlos waren, als sich herausstellte, dass wir einer Meinung sind. Mit Argumenten war also nicht viel zu machen und nach ein paar Sätzen der Zustimmung waren wir beide so schlau oder dumm wie vorher. Darum schreibe ich nun ein bisschen in diesem Blog und hoffe auf einen Gegenentwurf – oder besser noch auf eine schlüssige Erklärung – zu unserer Bestürzung über Gruppenaggressivität im Internet.

Möglicherweise bin ich etwas naiv und hinke dem Zeitgeist hinterher – aber für mich sind Medien, ja vielleicht sogar jede Form der Kommunikation, eine Möglichkeit der Horizonterweiterung. Denn für das, was ich schon bin, weiß, kann und fühle brauche ich kein Gegenüber. Aber ich will ja wachsen, lernen, mich verändern. Ich möchte nicht doof und einsam sterben. Darum kommuniziere ich. An Tischen, Theken, Telefonen, auf Papier und im Internet. Natürlich ist diese Kommunikation auch Stimmungen unterworfen. Mal bin ich dünnhäutig, mal auf Krawall gebürstet. Und wie man in den Wald hineinruft, so schallt es bekanntlich heraus. Da nehmen sich Wald und Internet nicht viel. Vielleicht ist der Wald ein wenig zuverlässiger – aber nur vielleicht.

Jedenfalls rufe ich in den Wald, um Antwort zu bekommen. Ich erwarte eine Reaktion. Im besten Falle natürlich eine, die mich weiter bringt, oder zum Lachen oder Nachdenken oder auch zum Weinen. Manchmal genügt es auch still im Wald zu sitzen und nur zuzuhören.

Bisher ging ich davon aus, dass das „alle so machen“. Mit graduellen Temperamentsunterschieden – das schon – aber im Großen und Ganzen doch interessiert an der Interaktion. Tatsächlich habe ich das auch für Auseinandersetzungen angenommen, in denen es hitziger und wütender zugeht als es meinem Temperament entspricht. Das ist im „echten“ Leben ja nicht anders – auch da steht mir die Deeskalationsmütze besser als der Hahnenkamm und eine harmonische Grundstimmung ist mir sehr recht.

Dennoch: Ich habe schon Hahnenkämpfe gesehen. Auch mit Menschen. „Bis einer heult“ sagte man früher gern. Den Satz verstand ich immer als „Könnt ihr Eure Konflikte nicht anders – schmerzfreier – lösen?“ Nie kam ich auf die Idee, dass er in Frage stellte, ob nach dem Heulen Schluss ist mit der Keilerei. Das hielt ich für selbstverständlich. Später wurden durch mediale Berichterstattung und viele Filme auch Ausnahmen von dieser Regel für mich vorstellbar. Nicht nachvollziehbar, aber vorstellbar. Da wurden Menschen blindwütig geschlagen. Menschen, die längst am Boden lagen. Menschen, die schon lange weinten. Menschen, die sich nicht wehren konnten. Das macht mir Angst. Aber ich weiß, dass es das gibt. Vielleicht schon immer gegeben hat. Als Ausnahme. Nur als Ausnahme – darauf hoffe ich sehr.

Das, was mir jetzt begegnet (und zu meinem Glück nicht auf mich zielt), ist etwas anderes. Ich lese Begriffe wie „Cyber-Mobbing“ und „Shitstorm“. Auch da wird geweint – da bin ich mir sicher – und sicherlich noch weit mehr als das. Nur ist das nicht das Ende, sondern erst der Anfang. Mit den Tränen wird die Meute erst wach. Und da ist nicht nur einer oder eine Hand voll, deren Wut keine Grenzen mehr kennt. Blitzschnell wird ein Mob daraus. Und DAS liegt jenseits meiner Vorstellungskraft. Wie kann DAS ein Massenphänomen und damit die Regel sein? Wie kann Sadismus so allgemeinmenschlich sein?

Und während ich das schreibe fällt mir das Gespräch mit einem Menschen ein, der sich selbst als Sadisten bezeichnete, was wohl eher ungewöhnlich ist. Jedenfalls sprach er von einer großen Verantwortung Schmerzen zuzufügen, vom genauen Hinsehen, vom rechten Maß und dem Respekt im Umgang mit Grenzen. Also dann, wenn einer weint. Und mir fällt auf, dass dies das Gegenteil von dem ist, was in den Kommentarspalten und „sozialen“ Netzwerken passiert. Denn da wird die Verantwortung abgegeben und gemeinsam in den Wald gebrüllt. Ein blindes Abreagieren. Das Opfer ist gleichgültig. Ob es weint oder schon längst (mund)tot gemacht wurde, scheint egal zu sein. Gefeiert und genossen wird die gemeinsame Aggression. Und wenn dann später über das Ausmaß der Verwüstung berichtet wird, wenn der Wald seine Antwort gibt, dann sind sie schon längst woanders. Und all das passt nicht in die Begrenzheit meines Horizonts.

Ich bin mir nun nicht mehr sicher, ob ich ihn wirklich erweitern möchte.

Als Nachtrag ein Beitrag der Süddeutschen Zeitung:

Ein Ort für anonymen Hass

Ein Youtube-Video entfacht die Hetzjagd auf einen kranken Jungen. Kein Einzelfall, denn das Netz ist häufig ein Ventil für grundlosen Hass. In der Öffentlichkeit wird das Thema Online-Mobbing viel zu selten thematisiert … weiter