Treue
„Bist Du mir treu?“
Diese Frage geht mir nach. Mittlerweile habe ich gelernt, dass mit ihr zumeist sexuelle Exklusivität gemeint ist. Und da empfiehlt es sich nicht zu zögern mit der Antwort. Oder gar nachzufragen, wie das denn praktisch gemeint ist. Was man tun, fühlen oder denken sollte, um treu zu sein. Wo ein Treuebruch beginnt und worin sich Treue überhaupt zeigt.
„Bist Du mir treu?“
Das ist also keine grundsätzliche Frage nach meiner Verlässlichkeit oder Loyalität. Es ist Ausdruck eines Zweifels. Die Reaktion auf eine konkrete Irritation. Irgendein Verhalten war nicht regelkonform und hat Verunsicherung ausgelöst. Irgendetwas hat sich verändert. Und das bleibt nicht aus – denn Menschen verändern sich.
„Bist Du mir treu?“
ist also auch die Frage danach, was diese akute Veränderung für die Beziehung bedeutet. Und sie ist berechtigt. Nicht weil jede Veränderung die Treue gefährden würde, sondern weil Treue Veränderungen mitmachen und an ihnen wachsen muss, wenn sie Bestand haben will. Und genau da wird es spannend. Denn heute sind wir beiden nicht mehr die Menschen, die sich damals ewige Treue versprochen haben.
„Bist Du mir treu?“
kann also auch heißen: Gilt Dein Versprechen noch? Trotz aller Veränderung oder gerade wegen ihr? Passen – gehören – wir noch zusammen? In Filmen taucht diese Frage immer plötzlich und unerwartet aus dem Nichts auf. Alles Eitel-Freude-Sonnenschein und dann *kazong*: „Es ist passiert, ich habe jemanden kennengelernt“. Da ich unzählige Filme dieser Art gesehen habe, fällt es mir nicht mehr auf, wie absurd eine solche Situation eigentlich ist. Denn: Wie weit müssen sich zwei Menschen schon voneinander entfernt haben, damit so viel verschwiegene Veränderung überhaupt zwischen sie passt? Wie viele Irritationen müssen unbeachtet beiseite geschoben worden sein, bis das Geständnis vollendeter Tatsachen die vermeintliche Idylle untergräbt? Macht es Sinn da noch von Treue zu sprechen? Ganz gleich wie der Film ausgeht?
„Bist Du mir treu?“
Ich versuche eine ehrliche Antwort zu finden. Ich denke daran, wie es ist, wenn wir „jemanden kennenlernen“. Wenn neue Menschen in unser Leben kommen, neue Ideen unsere Vorstellung vom Leben verändern, Glück oder Unglück die Vorzeichen unseres Alltags ändern. Und ich stelle fest, dass wir uns in all den Jahren nie vor vollendete Tatsachen gestellt haben. Wir haben wirklich immer versucht einander „mitzunehmen“, Rücksicht zu nehmen, neue Beziehungsebenen zu finden. Wie schwierig solche Gespräche und Entwicklungen sind, weiß jeder. Darüber muss nicht viel geschrieben werden. Überraschend für mich ist aber, dass wohl genau das für mich Treue bedeutet: der Mut und die Konfliktfähigkeit offen und ehrlich über Veränderungen sprechen. Lange bevor und auch lange nachdem sexuelle Exklusivität ein Beziehungsthema ist.
„Bist Du mir treu?“
Ja. So gut ich kann.
Foto: mkorsakov