Umdenken ist leise

Umdenken ist leise

Manchmal fühle ich mich missverstanden, obwohl ich nichts gesagt habe. Es heißt, dies sei nicht möglich (metakommunikkatives Grundsatzdings). Zugegeben, ich bin da, und mein Körper kommuniziert schon allein durch seine Sichtbarkeit: autonom, nonverbal und ohne mich über seine Motive in Kenntnis gesetzt zu haben. Nichtsdestotrotz steht das, was ich sichtlich irgendwie geworden bin, in keinem nachvollziehbaren Zusammenhang zu dem Sinnkomplex, in den ich gestellt werde, wenn sich jemand an mir abarbeitet oder durch mich provoziert fühlt. Ist das ein Zeichen sozialer Entropie? Oder nur ein Hinweis darauf, dass es menschlich ist, die ganze Welt auf sich zu beziehen, und ich in diesem Vergleich nur Weltenteilchen und nicht Subjekt bin?

Beispielsweise esse ich vegetarisch. Es gibt recht viele Gründe, die aus meiner Perspektive für eine fleischfreie Ernährung sprechen und keine dagegen. Also verhalte ich mich dem entsprechend. Ein wichtiger Punkt, der nicht vergessen werden sollte: Es macht mir nichts aus. Ich vermisse nichts. Es ist kein Verzicht, nur eine Wahl, die sich für mich gut anfühlt. Fände ich Steaks supergeil, hätte ich Vernunftargumente wahrscheinlich gar nicht zur Kenntnis genommen oder sie wären mir womöglich schnurz. Dessen bin ich mir bewusst und gebe es auch zu – verbal, deutlich und ehrlich.

Darum macht es mich ratlos, wenn Menschen plötzlich anfangen, mir gegenüber ihre eigenen Gewohnheiten zu rechtfertigen oder Diskussionen über die fragwürdige Rolle der Medien bei Lebensmittelskandalen entfachen. Warum können wir nicht einfach nett beieinander sitzen und gemeinsam essen? Warum verderbe ich mit meinen Vorlieben anderen Menschen den Appetit?

Es gibt recht viele Situationen, die ähnlich ablaufen. Mein fehlender Familiensinn, die Smalltalk-Behinderung, die Facebook-Allergie, das Impfen unserer Katzen … mit keiner meiner Entscheidungen oder Vermeidungshaltungen möchte ich anderen Menschen die Freude verderben, sie angreifen, missionieren oder mich über sie erheben. Ich möchte einfach tun, was mir aus meinem begrenzten Blickwinkel richtig erscheint und im Rahmen meiner Möglichkeiten liegt.

Die Sonne bewegt sich so schnell. Kaum habe ich mich an eine Meinung gewöhnt und kann sie flüssig begründen, ändert sich der Einfallswinkel des Lichts und alles sieht anders aus. Ich bin zu alt, um mich im Recht zu fühlen; doch noch nicht alt genug, alsdass mir die Welt den Buckel runterrutschen könnte. Darum lasse ich mich verunsichern, wenn ich anders verstanden werde als ich gemeint bin.

Und manchmal fällt mir auf, dass vor langer Zeit schon mal jemand an mir missverstanden hat, was ich heute bin. Dann wundere ich mich.